Einblicke: Die sportpsychologische Betreuung im Behindertenleistungssport

Derzeit ist im internationalen Behindertensport eine erhebliche Leistungsentwicklung zu beobachten, die u. a. auf die fortschreitende Professionalisierung der Trainings- und Arbeitsbedingungen zurückzuführen ist. So berichtet beispielsweise der Deutsche Behindertensportverband e.V. in seinem Leistungssportkonzept, dass „mit den Paralympischen Spielen 1988 in Seoul eine Leistungsexplosion eingesetzt hat, deren Ende noch nicht absehbar ist“ (Deutscher Behindertensportverband, 2001, S. 3).
Diese Entwicklung ist vor allem deshalb beachtlich, weil der Behindertensport noch bis in die 80er Jahre hinein fast ausschließlich im Rahmen der Rehabilitation und nicht als eigenständiges Segment des Leistungssports diskutiert wurde (Doll-Trepper, 2002). Erst seit 1989 dokumentiert der Dachverband für sporttreibende Menschen mit Behinderung, der Deutsche Behindertensportverband e.V. (DBS), die vielfältigen Bereiche des Behindertensports in seinem Untertitel „Fachverband für Leistungs-, Breiten- und Rehabilitationssport für Menschen mit Behinderung“ (Deutscher Behindertensportverband, 2011, S. 7). Der Begriff „Behindertensport“ umfasst demnach drei verschiedene Teilbereiche, deren institutionelle Organisation beim DBS liegt (Doll-Trepper, 2002; Scheid et al., 2003). Seine ordentlichen Mitglieder bestehen aus 17 Landes- und zwei Fachverbänden. Innerhalb des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) ist der DBS der zuständige Fachverband für den Sport von Menschen mit Behinderung, während er gleichzeitig das nationale paralympische Komitee für Deutschland darstellt und über diese Funktion Mitglied im International Paralympic Committee (IPC) ist. Neben Europa- und Weltmeisterschaften stellen die Paralympics alle vier Jahre den Höhepunkt der internationalen Sportveranstaltungen für Menschen mit Behinderung dar (Scheid et al., 2003). Die Paralympischen Sommerspiele finden seit 1960 (die Winterspiele seit 1976) regelmäßig im Anschluss an die Olympischen Spiele statt und erfreuen sich einer steigenden Teilnehmerzahl (vgl. Scheid und Wegner, 2004). Waren es 1988 noch 65 teilnehmende Nationen, stieg die Zahl acht Jahre später (1996) auf 103 Nationen an.
Neben Menschen mit einer Körperbehinderung dürfen an den Paralympics auch Sportler mit intellektuellen Beeinträchtigungen teilnehmen (Ausnahmen: 2004 und 2008). Für diesen Personenkreis gibt es seit 1968 die derzeit weltweit größte Sportbewegung, die vom International Olympic Committee anerkannt ist: die „Special Olympics“. Sie umfasst Konzepte, die sowohl den Breiten- als auch den Leistungssport betreffen (vgl. Scheid et al., 2003; Wegner, Pochstein und Rotermund, 2008) und versteht sich „als Alltagsbewegung mit einem ganzheitlichen Angebot“ (Special Olympics Deutschland, 2008). Zudem werden unter dem Namen „Special Olympics“ seit der Gründerzeit auch leistungsorientierte, regelmäßig stattfindende internationale Spiele für Sportler mit intellektuellen Beeinträchtigungen durchgeführt (Doll-Trepper, 2002, 2008). Neben der „Special Olympics“-Bewegung wird der Leistungssport von Menschen mit geistiger Behinderung auch durch den DBS unterstützt (Wegner et al., 2008).
Um die Leistung von Sportlern mit unterschiedlichen körperlichen Behinderungen in Wettkämpfen vergleichbar zu machen und „auch diejenigen zur aktiven Teilnahme am Wettkampfsport zu motivieren, die aufgrund körperlicher Nachteile keine Chance auf eine erfolgreiche Teilnahme hätten“ (Bundesinstitut für Sportwissenschaften, 2008, S. 2), existiert ein Klassifizierungssystem. Während sich die traditionelle Art der Klassifizierung rein an medizinischen Grundlagen der Schädigung orientierte, gehen neuere Klassifikationsansätze von einem funktionalen Ansatz aus. Diese Art der Klassifizierung macht es möglich, „dass Athleten mit unterschiedlichsten Behinderungen innerhalb einer Startklasse gemeinsam sportlich aktiv sein können“ (Scheid et al., 2003, S. 31). Die unübersichtliche Vielzahl an Startklassen, die die traditionelle Klassifizierung mit sich brachte, konnte auf diesem Wege reduziert werden und führte zu einem nachvollziehbareren Leistungsvergleich (siehe Scheid und Wegner, 2004). Dennoch kann die Diskussion über die Überarbeitung des derzeitigen Systems und die Einteilung in Startklassen im Hinblick auf Transparenz noch nicht als abgeschlossen gesehen werden (vgl. Doll-Trepper, 2002; Scheid et al., 2003; Wegner, 2008).
Für den Bereich der Sportpsychologie zeigten Keim und Weidig (2010) anhand einer Befragung von 78 paralympischen Sportlern sowie zwölf Bundestrainern aus paralympischen Sportarten, dass der Sportpsychologie eine hohe Bedeutung für die Leistungsentwicklung beigemessen wird und Interesse an sportpsychologischer Betreuungsarbeit besteht. Neben den Einzelfallanalysen von Wegner (2001) stellt diese Arbeit eine der wenigen Studien dar, die direkt auf sportpsychologische Aspekte im Behindertenleistungssport eingeht. In weiteren Arbeiten zu umfassenden Aspekten des Behindertenleistungssports spielen sportpsychologische Themen meist nur eine untergeordnete Rolle. Dies ist beispielsweise in der Studie von Kemper und Teipel (2008a) der Fall. Die Autoren befragten 113 Athleten mit Behinderung zur Nutzung der Betreuungsangebote an OSP‘s und anderen Fördereinrichtungen. Zur psychologischen Beratung gaben nur drei der 113 Befragten an, dieses Angebot genutzt zu haben, wobei als häufigste Gründe für die Nichtnutzung mangelnde Information (30,97 %), eine zu große Entfernung (23,01 %) oder Zeitmangel (12,39 %) genannt wurden. Des Weiteren formulieren Hanrahan (1998, 2004) sowie Martin (1999) Empfehlungen für die sportpsychologische Betreuungsarbeit von Athleten mit Behinderung.
Neben diesen Studien existieren jedoch nur wenig systematische Forschungsarbeiten, ob bzw. inwieweit sportpsychologische Arbeitsweisen in den Behindertenleistungssport übertragen werden können. Darüber hinaus stellt sich die Frage, welche sportpsychologischen Aspekte im Leistungssport körperbehinderter Menschen eine besondere Rolle spielen könnten. Der vorliegende Beitrag diskutiert daher die strukturellen Rahmenbedingungen des Behindertenleistungssports und ihre Bedeutung für eine sportpsychologische Betreuung anhand von Praxisbeispielen und leitet daraus sportpsychologischen Forschungsbedarf im Leistungssport für Menschen mit einer Körperbehinderung ab.
Bei der Definition der Zielgruppe der Menschen mit Behinderungen richten wir uns nach Wegner (2008, S. 810):
- „Behinderung ist die Folge einer Schädigung wie bspw. einer frühkindlichen Hirnschädigung, einer angeborenen Gliedmaßenfehlbildung, des Ausfalls eines Sinnesorgans, die Chronifizierung einer Erkrankung oder das Ergebnis eines Unfalls. Die Schädigung kann sowohl im körperlich-biologischen als auch im geistig-seelischen Bereich auftreten.“
Wegner differenziert in einer Systematisierung sechs verschiedene Behinderungsarten (vgl. Wegner, 2001). Hierbei werden die körperlichen Behinderungen „in die Bereiche der Störungen der inneren Organe, der Behinderun- gen des Stütz- und Bewegungsapparates und in Behinderungen im Bereich des zentralen und peripheren Nervensystems differenziert“ (Wegner 2008, S. 810 f.).
Rahmenbedingungen im Behindertenleistungssport
Der Behindertenleistungssport unterscheidet sich gegenüber dem Leistungssport nicht behinderter Menschen vor allem durch „seine überaus große Heterogenität“ (Deutscher Behindertensportverband, 2011, S. 5). So sind die meisten Trainingsgruppen von Menschen mit Behinderung, was Alter und Persönlich- keitsentwicklung angeht, sehr unterschiedlich zusammengesetzt. Nicht zuletzt scheint dies in der Tatsache begründet zu sein, dass sich die Anzahl potentieller Sportler mit Behinderung (im Vergleich zum Nicht-Behindertenbereich) aus einem „sehr begrenzten Pool“ speisen muss (Deutscher Behindertensportverband, 2011, S. 5). Laut einer Pressemitteilung des statistischen Bundesamtes vom 12.05.2011 lebten 2009 in Deutschland „9,6 Millionen Menschen mit einer amtlich anerkannten Behinderung“ (Statistisches Bundesamt Deutschland, 2011), was einem Prozentsatz von 11,7 % aller Bundesbürger entspricht. Die Anzahl potentieller Sportler mit Behinderung ist demnach (im Vergleich zum Nicht-Behindertenbereich) deutlich geringer. So verzeichnet der DBS nur etwa 500 Sportler, die im Leistungssport aktiv sind, von denen „ca. 200 die Aufnahme in die Kaderstrukturen des DBS gelingt“ (Deutscher Behindertensportverband, 2011, S. 5). Diese setzen sich neben geburtsbehinderten Menschen auch aus Sportlern zusammen, die z. B. aufgrund eines Unfalls oder einer degenerativen Erkrankung erst im Erwachsenenalter den Weg in den Behindertensport fanden (Quade, 2000) und „...häufig über den Rehabilitationssport zum Leistungssport kommen“ (Scheid et al., 2003, S. 24). Dies führt zu einer erheblichen Heterogenität hinsichtlich Vorerfahrungen, Sozialisation im bzw. außerhalb des Sports und in Bezug auf die Leistungsmotivation der Sportler. Dabei spielen der Zeitpunkt des Eintritts der Behinderung sowie die damit einhergehenden Erfahrungen und Bewältigung eine entscheidende Rolle in der Persönlichkeitsentwicklung behinderter Menschen. Ein detaillierter Überblick über Entwicklungs- und Sozialisationsbedingungen von Menschen mit Behinderung sowie damit verbundene psychologische Aspekte findet sich bei Wegner (2001). Kemper und Teipel (2008b) untersuchten das Selbstkonzept von 75 Leistungssportlern mit Behinderung. Sie fanden Unterschiede im Selbstkonzept, die vom Eintrittszeitpunkt der Behinderung abhingen. Spätbehinderte Sportler (Behinderung ab dem sechsten Lebensjahr) zeigten dabei eine signifikant höhere Athleten-Identifikation als Menschen, die schon vor dem sechsten Lebensjahr behindert waren.
Aufgrund der besonderen Rahmenbedingungen im Behindertenleistungssport, wie der insgesamt reduzierten Grundgesamtheit und der heterogenen Alters- und Behinderungsstruktur, sind folglich „der Bildung von homogenen Trainingsgruppen Grenzen gesetzt“ (Radtke, 2011, S. 49). Scheid et al. (2000, S. 202) fanden bei- spielsweise, dass fast 30 % der behinderten Sportler aus Individualsportarten selbstorganisiert und „ohne Anschluss an eine Trainingsgruppe“ trainieren. Um den Behindertenleistungssport strukturell zu fördern, entwickelte der DBS im Jahr 2007 einen Strukturplan, der u. a. auch den Aufbau eines Stützpunktkonzeptes vorsah (Deutscher Behindertensportverband, 2007, 2011). Auf diese Weise sollen u. a. die täglichen Trainingsmöglichkeiten behinderter Leistungssportler durch die Schaffung so genannter „paralympischer Trainingszentren“ verbessert werden. Mittlerweile sind bereits 17 solcher Zentren entstanden (siehe Deutscher Behindertensportverband, 2011). Zusätzlich dazu haben A- und B-Kadersportler des DBS seit dem Jahr 2000 Zugang zu den Olympiastützpunkten. Eine Integration junger Kadersportler in existierende Eliteschulen des Sports funktionierte bislang jedoch nur in Einzelfällen (Radtke, 2011). In Zukunft müssen daher Infrastruktur, Fördereinrichtungen und der Zugang zu Betreuungsmaßnahmen für behinderte Leistungssportler weiter ausgebaut und erweitert werden. Dies gilt auch für die finanzielle Förderung behinderter Leistungssportler. Trotz öffentlicher Förderungen ergibt sich für „die Sichtungs-, Förder- und Leistungslehrgänge nur ein jeweils eng begrenzter finanzieller Handlungsrahmen“ (Scheid et al., 2003, S. 27). So müssen behinderte Sportler große Teile der Trainingskosten selbst tragen, was z. B. aufgrund von Einzelanfertigungen im Sportmaterial einen limitierenden Faktor darstellen kann. Die begrenzten finanziellen Ressourcen zeigen sich jedoch nicht nur auf der Seite der Athleten, sondern führen nicht selten auch dazu, dass Trainer sowie Betreuer nur unzureichend eingebunden bzw. unterstützt werden können. Gerade im Nachwuchssport wurden in der Vergangenheit beispielsweise durch geänderte Betreuungsschlüssel Kosten reduziert, was häufig eine Überforderung und einen qualitativen Rückschritt im Trainingsbetrieb bedeutet.
Sportpsychologisch gesehen fehlen aufgrund der kleinen Trainingsgruppen und der insgesamt geringeren Anzahl der Leistungssportler im Behindertensport häufig Prozesse wie interner Leistungs- und Qualifikationsdruck und Wechsel in der Kaderbesetzung, was die Entwicklung einer kompetitiven Teamkultur erschwert. Im Nachwuchsbereich müssen junge Sportler (meist geburtsbehindert) darüber hinaus zumeist schon früh in Trainingsgruppen mit deutlich älteren Sportlern integriert werden, was zum einen die Gefahr der Überforderung und zum anderen das Risiko eines Dropouts aufgrund zu geringer Anreize und mangelnder Peergroups mit sich bringt. Überdies besteht in Deutschland (insbesondere im internationalen Vergleich) noch deutlicher Forschungsbedarf zur Talentsuche und Nachwuchsförderung (Radtke, 2011; Wegner, Pochstein und Brückner, 2009). Die Untersuchungen von Radtke (2011) und Wegner et al. (2009) stellen hierbei die einzigen, derzeit vorliegenden Untersuchungen dar, welche die Thematik der Nachwuchsgewinnung und -förderung bzw. der Talentsuche systematisch bearbeiten.
Implikationen für die sportpsychologische Betreuungsarbeit
Die besonderen Rahmenbedingungen im Behindertenleistungssport erfordern eine Anpassung der sportpsychologischen Betreuungsarbeit (siehe auch Hanrahan 1998, 2004; Martin, 1999). Wenn auch viele Themen, wie z. B. Psychoregulation und Konzentrationstraining genauso wichtig sind wie in der Betreuung nicht behinderter Sportler, erfordert die Heterogenität der Trainingsgruppen im Behindertenleistungssport eine insgesamt stärkere Individualisierung der sportpsychologischen Betreuungsinhalte. Einige Inhalte, wie z. B. die Bewältigung der Behinderung und der Umgang mit Veränderungen in der Behinderung kommen in der sportpsychologischen Betreuung nicht behinderter Menschen gar nicht vor. In der Praxis hat sich z. T. bewährt, relevante Themen in der Lehrgangsbetreuung in möglichst homogenen Kleingruppen zu erarbeiten. Der Bedarf an Einzelgesprächen für individuelle Anliegen erscheint zudem erhöht und ist häufig mit einem höheren zeitlichen Aufwand verbunden. Bei Themen, bei denen unerfahrene Athleten von Erfahrenen profitieren können (beispielsweise Wettkampferfahrung) kann die Heterogenität jedoch auch bereichernd sein und sollte durch einen Austausch in der Großgruppe positiv zum Einsatz kommen.
Darüber hinaus sollten Sportpsychologen Zeit einplanen, sich mit den Besonderheiten des Behindertensports und der Trainingsabläufe vertraut zu machen, um nötige Einblicke in den üblichen Trainingsablauf zu bekommen. Außerdem ist es durch die kleinen Trainingsgruppen und die teilweise dezentralen Strukturen nicht einfach, einen kontinuierlichen Kontakt zu den Sportlern zu halten. Für die sportpsychologische Betreuungsarbeit ergibt sich daraus zum einen ein erhöhter Organisationsaufwand, zum anderen sollte eine Förderung der Selbständigkeit und der Selbstführungsfertigkeiten der Sportler erfolgen, um sie bei der Planung und Durchführung eines konstanten, zielgerichteten und eigenverantwortlichen Trainings zu unterstützen. Darüber hinaus sollte ein effektives Umfeldmanagement im Fokus stehen, um Überforderungs- und Insuffizienzgefühlen vorzubeugen bzw. den Umgang damit zu erleichtern. Da im Behindertenleistungssport, wie schon betont, häufig sehr heterogene Gruppen zusammen trainieren, ist sportpsychologisch gesehen die Beeinflussung der Teamdynamik besonders wichtig. Hier können Team bildende Maßnahmen dabei helfen, eine positive Gruppendynamik zu fördern und zu kultivieren, um bei dem Formen einer leistungsfördernden Teamkultur unterstützend mitzuwirken.
Trainer sowie Betreuer im Behindertenleistungssport sind aufgrund der oben genannten Rahmenbedingungen selten hauptamtlich und oft nur gegen eine geringe Bezahlung in ihrer Freizeit tätig. Dies führt nicht selten zu einer Kumulation von Aufgaben und Interessen, sodass in der sportpsychologischen Betreuung auch die Unterstützung der Trainer im Sinne eines Stress- und Belastungsmanagements sinnvoll sein kann. Darüber hinaus sollte mit den Trainern – wie im übrigen Leistungssport auch – an der Förderung von Kommunikation und z. B. der Optimierung von Feedback und Führungsverhalten gearbeitet werden.
Beispiel aus der Sportart Ski Alpin
Um die Möglichkeiten und Besonderheiten einer sportpsychologischen Betreuung im Behindertenleistungssport zu verdeutlichen, wird im Folgenden ein Praxisprojekt aus dem Wintersport exemplarisch vorgestellt. Weitere Praxisprojekte aus dem Sommersport und dem Mannschaftssport Basketball finden Sie im Handbuch Sportpsychologischer Praxis.
Sportpsychologische Betreuung im Ski Alpin
Die sportpsychologische Betreuung der Ski-Alpin-Nationalmannschaft der Athleten mit Behinderung wurde von Trainern des Teams initiiert und von 2006 bis 2010 durch das Bundesinstitut für Sportwissenschaften (BISp) gefördert. Durchgeführt wurde die Betreuung von den Sportpsychologen Dr. Kai Engbert und Tanja Werts (München).
Die Ski-Alpin-Nationalmannschaft der Athleten mit Behinderung besteht zum einen aus einem Kern von ca. zehn Athleten, die mit A, B oder C-Kader Status trainieren. Zum anderen besteht eine Nachwuchsmannschaft (Juniorenteam) aus ca. 15 Sportlern unterschiedlicher Leistungs- und Altersklassen. Bei den Paralympics 2006 in Turin konnte das deutsche Team den ersten Platz im Medaillenspiegel erreichen (2002: 3. Platz, 1998: 5. Platz). Um diesen positiven Trend weiter zu entwickeln, war ein wesentliches Ziel der hier vorgestellten sportpsychologischen Betreuung, junge Sportler des Teams an die Weltspitze heranzuführen und so auszubilden, dass sie den mentalen Herausforderungen, z. B. bei den Paralympics 2010 in Vancouver gewachsen sein würden. Darüber hinaus sollten die Sportler in ihrer selbständigen Trainingsgestaltung und der Koordination von Beruf und Sport unterstützt werden.
Die sportpsychologische Betreuung umfasste zunächst nur die Kadersportler und wurde im dritten Projektjahr auf den Nachwuchsbereich ausgedehnt. Dabei wurden Trainings- und Wettkampfbetreuungen realisiert, bei denen in der Regel pro Lehrgang ein sportpsychologisches Thema bzw. eine Fertigkeit schwerpunktmäßig erarbeitet wurde. Dies erfolgte im Gruppensetting (ca. eineinhalb Stunden), wobei stets die zusätzliche Möglichkeit bestand, individuelle Anliegen in Einzelsitzungen zu bearbeiten. Neben den Gruppensitzungen bestand durch die meist mehrtägigen Lehrgangsbetreuungen für den Sportpsychologen die Möglichkeit, auch während des Schneetrainings Interventionen einzubauen bzw. die Sportler bei der praktischen Umsetzung des Gelernten (z. B. Routinen am Start) zu unterstützen. Inhaltlich orientierte sich das sportpsychologische Fertigkeitstraining an den Kernbereichen der praktischen Sportpsychologie, wie z. B. Psychoregulation, Vorstellungstraining, Selbstbewusstsein, Konzentration und Startvorbereitung.
Gemäß dem Strukturmodell der sportpsychologischen Betreuung von Beckmann und Elbe (2011) erfolgte neben dem Training sportpsychologischer Fertigkeiten eine individuelle Diagnostik anhand sportspezifischer Fragebögen, beispielsweise zur Leistungsmotivation (AMS- Sport; Wenhold, Elbe und Beckmann, 2009a), Volition (VKS; Wenhold, Elbe und Beckmann, 2009b) und zur Wettkampfangst (WAI-T; Brand, Ehrlenspiel und Graf, 2009). Im Einzelsetting wurden die Ergebnisse rückgemeldet und darauf aufbauend vor allem der Umgang mit Drucksituationen und Misserfolgsängstlichkeit thematisiert und ggf. funktionale Selbstgespräche erarbeitet. Desweiteren wurden die Sportler bei individuellen Schwierigkeiten und der konkreten Umsetzung sportpsychologischer Fertigkeiten sowie in sozialen oder die Behinderung betreffenden Themen unterstützt. Über die sportpsychologische Arbeit mit den Sportlern wurden auch die Trainer im Sinne eines „Coach-the-Coach“ im Umgang mit schwierigen Situationen sowie bei der Führung von Zielvereinbarungsgesprächen und der Verbesserung ihres Feedbackstils unterstützt.
Zusätzlich zur sportpsychologischen Betreuung auf Trainingslehrgängen wurde ein jährliches „Summer Kick off“ am Ende der Saison etabliert. Bei diesem dreitägigen Workshop reflektierten die Sportler mit Übungen und Aufgaben individuell und in der Gruppe die vergangene Saison, definierten gemeinsam mit den Trainern Zielvereinbarungen und nahmen eine individuelle Planung des bevorstehenden Sommers und der kommenden Wintersaison vor. Auf diese Weise fand eine Verzahnung zwischen der Vermittlung von Trainings Know-how (z. B. Workshops zur Trainingslehre) und der Verbesserung der Selbstführungsfähigkeit und Selbständigkeit der Sportler (z. B. Zielsetzungstraining) statt. Im gesamten Team wurden darüber hinaus behindertengerechte Teambuilding-Übungen und eine Analyse von teambezogenen Ressourcen und Potentialen durchgeführt („Wo sind wir schon gut? Wo können wir als Team noch besser werden?“), um die Teamkultur positiv zu beeinflussen.
Im Rahmen verschiedener Befragungen und Beobachtungen zur Qualitätssicherung und Evaluation des Projekts zeigte sich, dass die Sportler am Start selbständiger, strukturierter und ruhiger auftraten und in den Bereichen mentales Vorstellungsvermögen und Selbstführungsfähigkeit deutliche Verbesserungen zu verzeichnen waren. Außerdem gaben sie an, mit den mentalen Anforderungen der internationalen Rennen „besser klar zu kommen“. Im Training wurde ein bewussterer Umgang mit dem Körper und der Trainingssituation deutlich. Letztendlich schlugen sich diese Fortschritte auch in den internationalen Ergebnissen nieder, wie z. B. dem ersten Platz im Medaillenspiegel bei den Paralympics 2010 in Vancouver. Hier und auch bei der Weltmeisterschaft 2011 in Sestriere wurde deutlich, dass sowohl erfahrene Athleten ihr Können abrufen als auch jüngere Sportler an die Leistungen der Erfahrenen aufschließen konnten. Hervorzuheben sind beispielsweise die Leistungen von Anna Schaffelhuber (sitzende Klasse, Bronze bei den Paralympics in Vancouver 2010), Andrea Rothfuss (stehende Klasse, zweimal Silber und zweimal Bronze bei den Paralympics in Vancouver 2010) oder Thomas Nolte (sitzende Klasse, Bronze bei der WM 2011 in Sestriere).
Zusammenfassend zeigt das vorgestellte Projekt, dass eine sportpsychologische Betreuung im Behindertenleistungssport erfolgreich durchgeführt werden kann. Unter Beachtung der Rahmenbedingungen und Besonderheiten im Behindertenleistungssport konnten viele Elemente aus der sportpsychologischen Arbeit mit nicht behinderten Sportlern eingesetzt und auf die Bedürfnisse der Mannschaft angepasst werden. Insgesamt konnten v. a. die jungen Sportler der Ski-Alpin-Nationalmannschaft der Behinderten an die Weltspitze herangeführt und in die Lage versetzt werden, selbstgeführt und eigenständig zu trainieren und mit den mentalen Herausforderungen bei den Paralympics und Weltmeisterschaften umzugehen.
Quelle: Tanja Werts, Anke Delow, Birte Steven, Alex Hlawan, Kai Engbert, In: Handbuch sportpsychologischer Praxis, Spitta Verlag 2012.